Von Andrea Müller
Bild oben: Alexandra Malits, 3. /4.-Klass-Lehrerin im Schulhaus Unterlöchli, im Lerngespräch mit einer Schülerin.
Die Aufregung war gross: Die Stadt Luzern wird – mit Ausnahme der Semesternote – auf Noten verzichten. Im Gespräch mit Lehrpersonen, Eltern, Schulleitungen und Lernenden zeigt sich aber, dass die eigentliche Veränderung im Schulzimmer nicht den Verzicht auf Noten, sondern generell die Art des Unterrichtens und Beurteilens betrifft. Der Veränderungsprozess ist seit Jahren in Gang – die Inkraftsetzung des «Rahmenkonzepts Beurteilung» in diesem Schuljahr ist ein Schritt auf diesem Weg.
Das Ziel des zeitgemässen Unterrichts ist die individuelle Lernbegleitung. Dazu werden die Lernenden in der Volksschule der Stadt Luzern mit verschiedenen Instrumenten beurteilt (siehe Randspalte). «Die Beurteilung soll den Schülerinnen und Schülern zeigen, wo sie stehen, damit sie an einem Thema weiterarbeiten können», sagt Sandra Villiger, Co-Schulleiterin im Schulhaus Wartegg, in dem viele Lehrpersonen schon seit fünf Jahren ohne Noten unterrichten. «Eine simple Note unterbricht den Lernprozess. Lernen ist aber nichts Abgeschlossenes», sagt sie.
Vergleich mit sich selbst
Alexandra Malits ist 3./4.-Klass-Lehrerin im Schulhaus Unterlöchli und hat vor fünf Jahren aufgehört, Noten zu setzen. Sie sagt: «Das Verständnis für das Lernen hat sich verändert. Bei einer Lernkontrolle steht nicht mehr die Note als Motivation im Fokus. Früher wurde ein Thema mit einer Lernkontrolle abgeschlossen. Das ist heute nicht mehr so. Wenn Kinder noch Übungsbedarf haben, wird weitertrainiert. Lernkontrollen helfen den Lehrpersonen, das weitere Lernen gezielt zu planen. Dafür gibt es wirkungsvollere Rückmeldungsformen als Noten.» Die Kinder sollen sich an ihren eigenen Kompetenzen und nicht mit den Noten an den Mitschülerinnen und Mitschülern orientieren. So wird der Fortschritt der einzelnen Kinder sichtbar. Zudem werden Erfolgserlebnisse auch Kindern ermöglicht, die im klassischen System Frust durch schlechte Noten erleben.
Vertrauen schaffen
Alexandra Malits hat die Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler während der Umstellung auf notenfreien Unterricht befragt. Es gab mehrheitlich positive Rückmeldungen. Dass eine kompetenzorientierte Beurteilung viel mehr aussagt als eine Note, davon ist auch Philip Imhof, Vater eines Drittklässlers im Schulhaus Staffeln, überzeugt. Ihm gefällt, dass sein Sohn gelassen und ohne Druck in die Schule geht. «Die Kinder merken manchmal gar nicht, dass sie beurteilt werden. Denn die Lehrpersonen reden nicht von Lernkontrollen, sondern von ‹Zeige mir, was du kannst›.» Auf dem Laufenden gehalten wird Philip Imhof wöchentlich durch Einblicke in aktuelle Schulprojekte oder durch Informationen über Lerngespräche, die der Sohn in der Schule hat. Dieser Austausch ist wichtig. Das bestätigt auch Schulleiterin Sandra Villiger: «Den Eltern muss die Schule, wie sie heute ist, gut erklärt werden. Es kann Angst auslösen, nicht zu wissen, was mein Kind in der Schule tut.» Nebst dem persönlichen «Goldordner», einer Art Schatzkiste mit allen schönen Momenten der Kinder vom Kindergarten bis zur 6. Klasse, der zweimal jährlich mit den Eltern gefeiert wird, gibt es im Schulhaus Wartegg für jedes Kind ein Logbuch. Dieses wird regelmässig zur Ansicht mit nach Hause gegeben.
Arbeit am persönlichen Ziel
Immens wichtig ist der Austausch mit den Eltern auch in der 5. und 6. Klasse, wenn es um den Übertritt geht. An der Schule Wartegg gibt es dafür klar definierte Gefässe: ein Stufenelternabend, Informationsanlässe für alle Fünftklässlerinnen und Fünftklässler, Beurteilungs- und Coachinggespräche, das erste Zwischenzeugnis. Dieses beinhaltet Noten, weil der Kanton Luzern vorschreibt, dass die Leistungen der Lernenden von der 3. Primar- bis zur Sekundarschule am Ende jedes Semesters mit Noten beurteilt werden müssen.
In der 5. und 6. Klasse schauen Lehrpersonen und Kinder die persönlichen Ziele an. Zum Beispiel: «Du hast dir zum Ziel gesetzt, in die Kantonsschule zu gehen. Was brauchst du dazu noch?» Daran wird im Unterricht gearbeitet. Von Lehrpersonen und Schulleitungen ist zu hören, dass der notenfreie und kompetenzorientierte Unterricht zu Beginn durchaus einen Zusatzaufwand bedeute. Mit zunehmender Erfahrung nehme der Aufwand jedoch ab.
Die Arbeit am persönlichen Ziel bleibt auch nach dem Übertritt in die Sekundarschule wichtig. Peter Hofstetter unterrichtet seit drei Jahren notenbefreit an der Schule Utenberg. Er lässt die Lernenden zu Beginn des Schuljahres ein persönliches Leistungsziel festlegen. Die Rückmeldungen während des Semesters beziehen sich jeweils auf dieses vereinbarte Ziel. Das Umdenken braucht aber Zeit. «Die Rückmeldungen zu den einzelnen Lernzielen geben mir zwar ein viel genaueres Bild meiner Leistung», sagt eine Sekschülerin. «Aber wir sind uns halt so an Noten gewöhnt.» Peter Hofstetter ist überzeugt, dass eine komplett notenfreie Lösung denkbar ist. Noch muss er aber am Ende des Semesters, wie vom Kanton vorgeschrieben, eine Note setzen. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen bedauert er dies. In diesem Zusammenhang bleibt eine Aussage von Schulleiterin Sandra Villiger in Erinnerung: «Im Arbeitsleben geht auch niemand abends im Büro um und macht auf alle Arbeiten, die du gemacht hast, eine Note.»
Zahlreiche Beurteilungsinstrumente
Ab 2026 wird es an den Primarschulen und ab 2027 an den Sekundarschulen in der Stadt Luzern während des Semesters keine Noten mehr geben. Stattdessen gibt es verschiedene Formen der Beurteilung. Lehrpersonen nutzen beispielsweise folgende Beurteilungsinstrumente:
Bewertungen durch die Lehrpersonen
Darbietungen und Präsentationen, aber auch Produkte wie eine selbst gemachte Steinzeitlandschaft in einer Schuhschachtel oder gemäss vorgegebenem Volumen berechnete und gebastelte Boxen im Mathematikunterricht werden von der Lehrperson beurteilt.
Selbstbeurteilungen
Die Kinder kontrollieren selbstständig, ob sie das Lernziel zum Beispiel beim Auswendiglernen, beim Einmaleins oder beim Fremdsprachenvokabular erreicht haben.
Fremdbeurteilungen
Die Fremdbeurteilung kann zum Beispiel durch Klassenkameradinnen und Klassenkameraden erfolgen.
Dialog
Die Kinder erfahren in Lerngesprächen, Kurzfeedbacks, Coachinggesprächen oder Beurteilungsgesprächen, wo sie stehen.
Schriftliche Lernkontrollen
Die Beurteilung der verschiedenen Aufgaben erfolgt durch Symbole, zum Beispiel durch Pfeile, die mehr oder weniger stark ausgemalt werden.
Eine schriftliche Zusammenfassung hält fest, was das Kind schon kann und was es noch trainieren muss.