Kopfzeile

Inhalt

22. Februar 2021
Frauen leben genau gleich lange in Luzern wie Männer. Aber erst seit wenigen Jahren werden nach ihnen auch Plätze und Gassen benannt. Allen Pionierinnen hier voran: Anna Neumann. Das «Stadtmagazin» hat ihre Spuren aufgenommen.

Anna Neumann würde ganz schön Staub aufwirbeln, könnte sie an ihrer Anna-Neumann-Gasse in der Tribschenstadt vorfahren: gelber Citroën Torpedo C3, zielorientierter Fahrstil, leidenschaftliche Ärztin zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Strasse
Anna-Neumann-Gasse

Die Querstrasse liegt zwischen Landenberg-strasse und Rösslimatte: 200 Meter lang, 14 Meter breit, viel Naturbelag, einerseits urbane Blockwohnbauten, andererseits auch Luzerner-Theater-Werkstätte und Städtischer Kindergarten. Es gibt keine Informationstafel zu Anna Neumann. Wer ist die Pionierin, die man zu kennen glaubt?

«‹Anna-Neumann-Gasse 8› steht bei meinem Hauseingang!», antwortet ein Mädchen, nennen wir es Mia. Drei Kantonsschülerinnen kennen Greta Thunberg besser. Eventuell würden sie der Klimaaktivistin in Schweden eine Strasse widmen.

Auf der Minibrache vor dem «Gewerbegebäude» sonnen zwei Musiker auf einer gelben Bank. Anna Neumann? «Hmm, die Frau war bestimmt eine Persönlichkeit, sagen Christoph Pfändler und Marcos Gonzalez, «wir kennen dafür den Arturo-Toscanini-Stein beim Richard-Wagner-Museum.» Sie sei eine der ersten Ärztinnen im Kanton gewesen, weiss
Andreas Hug, gerade aufs Bike steigend, im Auto sei sie über die Landschaft gebraust. Einmal habe sie einen Polizisten geohrfeigt, weil er sie auf dem Weg zu einem Patienten behindert habe. Er sei stolz, an einer Strasse zu wohnen, die nach einer so tollen Frau benannt sei. Gerne würde er mehr erfahren.

Am 3. Oktober 1868 wird Anna Neumann als Tochter der Britin Martha Elisa Bullen und des Kantonschulprofessors Konrad Neumann in Luzern geboren. Ihr Bruder ist Arzt, ihre zwei Schwestern führen die Pension «Lützelmatt». Bis anfangs 19. Jahrhundert ist es Frauen fast unmöglich, Medizin zu studieren. So begibt sich Neumann nach England, um am «Cheltenham Ladies’ College» englisch zu lernen. Am «Institut Robert» bei Paris kommt französisch dazu. Als Übersetzerin und Journalistin finanziert sie die Fremdmaturität in Zürich. Danach nimmt sie das Medizinstudium in Genf, Bern und Basel auf, welches sie 1905 mit Staatsexamen abschliesst. 1910 wird Dr. Anna M. Neumann mit Dr. Minna Bachmann als erste Frau in die kantonale Ärztegesellschaft aufgenommen. Praxis an der Alpenstrasse 7, dann Töpferstrasse 8. Ab 1930 wirkt die «begnadete Diagnostikerin» an der Taubenhausstrasse 34 und bis zum Gotthard hoch.

A. Neumann
Anna Neumann

Tribschenquartier als Vorreiterin

In Luzern werden um 1890 erste Strassen nach Familien und Männern benannt. Das mobilisiert den «Verein für Frauenbestrebungen»: Er schlägt der Baudirektion Frauenstrassennamen vor. Die Eingabe wird bloss «verdankt». Lange Zeit ist vor allem Riedland zwischen dem Wagenbachbrunnen am Europaplatz und dem Richard-Wagner-Haus auf der Warteggrippe. Dort, im Schlössli Wartegg, lebt Minnie Hauk, Baronin von Hesse-Wartegg. Die Opernsängerin aus New York stirbt 1929 und vermacht Haus samt Umschwung der Stadt. Auf Insistieren hin wird die Wahlluzernerin 1989 geehrt: Der Minnie-Hauk-Weg verbindet den Richard-Wagner-Weg und den Tribschenmoosweg.

Es ist Ueli Habegger, Denkmalpfleger Stadt Luzern, der sich 2002 für Frauennamen in der Trischenstadt starkmacht. «Endlich eine Chance, den Frauen auf der Strasse die Vorfahrt zu geben!», singt er fast. Im Auftrag des Stadtpräsidenten entwickelt er Konzepte. Die Persönlichkeiten sollen aus verschiedenen Richtungen kommen, eine ausserordentliche Leistung vollbracht haben, zum Quartier passen. Seine Prägung entscheidet mit: «Meine Frau führte das Kantonale Büro für Gleichstellung. Meine Mutter leitete während des Zweiten Weltkriegs im Bundeshaus das Ressort Dokumentation, wo sie Johanna Hodel kennenlernte.» Die Politikerin kommt auf die Liste wie die Schriftstellerin Cécile Lauber, welche Natur, Mensch, Tier thematisiert, und Anna Neumann. «Mein Grossvater mütterlicherseits war Treuhänder, ich wusste aus seinem Nachlass, dass er die Armenärztin betreute», so Habegger. Ihr gelber Citroën sei im Verkehrshaus der Schweiz, ihr Porträt in der Zentralbibliothek Luzern.

Historische Fehlinformation

256 Männer und 5 Frauen, die hier von der Korporation Luzern ausgestellt sind, gehören zur «Porträtgalerie merk-würdiger Luzernerinnen und Luzerner». Anna Neumann leuchtet heraus: fokussierter Blick, verschmitzter Mund, Grossmutterfrisur, viel Gelb im Hintergrund. Spielt Maler Charles Wyrsch damit auf ihr Auto an? Ist dieses auch Cadmium- oder Zitronengelb? In Zeitungen und anderen Publikationen wird immer auf ihren gelben Citroën im Verkehrshaus verwiesen. Nehmen wir die Spur auf! Olivier Burger von der Kommunikation muss die Euphorie bremsen: «Das Modell ist im Aussenlager Rain. Leider hat es nicht Dr. Anna Neumann gehört, sondern ist 1962 aus Frankreich zugekauft worden.» Die technischen Daten sind gleich: Masse 330 × 140 × 170 cm, Gewicht 590 kg, Konstruktion aus Metall, Kunststoff, Leder. «Nach dem Ersten Weltkrieg begannen auch Frauen, Automobile zu lenken. Für sie konstruierte André Citroën einen besonders leicht zu fahrenden Wagen.»

Anna Neumann kombiniert Krawatte und Jackett zu langem Jupe. Liebt sie eine Frau? Ab 1931 fährt sie vermehrt nach Wassen, wo Studienkollegin Dr. Giulia Palagi eine Arztpraxis führt. Die Gräfin aus Florenz besitzt einen schwarzen Fiat Ballila. Zusammen betreuen sie italienische Fremdarbeiter, welche an der Gotthardstrasse bauen. Das Honorar passt Anna Neumann den Möglichkeiten der Patienten an. Was ihr noch mehr Arbeit schafft. Ihr gelbes Cabriolet ist überall. Kein Weg ist ihr zu weit, keine Zeit zu unmöglich. Sie arbeitet fast bis zu ihrem Tod. Am 7. April 1946 stirbt Anna Neumann an einer Lungenentzündung im Praxis-Haus an der Taubenhausstrasse 34 – mittellos.

In der Erinnerung fährt der gelbe Citroën weiter. Er sei darauf herumgeturnt, sagt Fridolin Holdener-Wüest, Jahrgang 1936. Seine Familie habe eine Behandlung durch Dr. Anna Neumann erlebt. Korpulent sei sie gewesen, von heiterem Gemüt, so der Zeitzeuge und spätere Kantonsarzt.

50 Jahre Frauenstimmrecht Luzern

Über 100 Jahre dauert es, um vor 50 Jahren das Frauenstimmrecht durchzusetzen. Das Historische Museum Luzern führt bis 29. August in der Ausstellung «Eine Stimme haben» differenziert, anschaulich und mit Humor durch die Zeit. Wegen der Pandemie bleibt das Museum im Februar 2021 geschlossen.
Unter www.historisches museum.lu.ch gibt’s mehr Informationen.

«Eine Stimme haben»
Lokale Persönlichkeiten werden im Bundeshaus gezeigt. Josi J. Meier mobilisiert nach der
Ablehnung des Frauenstimmrechts 1959: «Wir haben eine Schlacht verloren, werden aber den Krieg gewinnen.» 1971 wird die Luzernerin eine der ersten elf Nationalrätinnen, 1991 die erste Ständeratspräsidentin der Schweiz.

Josi-J.-Meier-Platz
Zum zehnten Todestag, dem 4. November 2016, widmet die Stadt der Vorkämpferin beim Reusswehr/Im Zöpfli den Josi-J.-Meier-Platz. Dazu hätten Weggefährtinnen angeregt, sagt
Baudirektorin Manuela Jost. Im Stadtrat ist die Platzbenennung vor Meiers früherem Wohnhaus schnell beschlossene Sache. «Derzeit sind keine Anträge in der Pipeline. Neue Möglichkeiten entstehen bei städtebaulichen Gestaltungen wie Littau-West und Udelboden in fünf bis zehn Jahren oder zweite Rösslimatt-Etappe um 2035.» Ihr Lieblingsplatz? «Mitunter Im Zöpfli: Eine Oase mitten in der Stadt, etwas versteckt gelegen, am Fluss mit Mammutbaum – ideal, um kurz zu verweilen.»

Edith Arnold
Freischaffende Journalistin

Weitere Beiträge im Stadtmagazin

Stadtmagazin 1/2021