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Am Kapellplatz wird dieser Tage ein Neubau bezogen – ein Wohn- und Geschäftshaus an geschichtsträchtiger Stelle. Mit den Beständen des Stadtarchivs lässt sich diese Geschichte nachzeichnen.

An den Vorgängerbau, das ehemalige ABM- und spätere C&A-Haus auf dem Kapellplatz, auch «Betonklotz» oder «Schandfleck von Luzern» genannt, mögen sich die meisten Luzernerinnen und Luzerner erinnern. Doch an dieser prominenten Stelle haben bereits frühere Bauten für Diskussionen und Emotionen gesorgt.

Im Jahr 1510 liess sich Jakob von Hertenstein hier ein repräsentatives Haus bauen und 1517 von Vater und Sohn Holbein innen und aussen mit aufsehenerregenden Fresken schmücken.

In der Gotikbegeisterung des 19. Jahrhunderts fanden die Renaissance-Fresken keine Gnade mehr vor dem Zeitgeschmack. Als das Gebäude 1825 abgerissen wurde, regte sich aber immerhin in Fachkreisen Widerstand.

Dem nachfolgenden Knörr-Haus erging es nicht besser: Nach einem unauffälligen Dasein als Gewerbe- und Wohnhaus respektive als Bankhaus, wurde es 1959 zusammen mit zwei Nachbarhäusern abgebrochen. Diesmal war der Protest unüberhörbar.

An deren Stelle wurde 1961/62 das eingangs erwähnte Warenhaus erbaut, das als Fremdkörper in der Altstadt wahrgenommen und politisch als «brutaler Zweckbau» bekämpft wurde. Verschiedene Verschönerungsideen wurden gewälzt und Entwürfe gezeichnet.

Der jetzige Neubau wurde von der Presse verhalten positiv aufgenommen, er füge sich «harmonischer ein in die altehrwürdigen Gebäude rund um den Kapellplatz», vermisst wird aber der grosse Wurf. Man darf immerhin annehmen, dass sich die Kadenz der Ersatzneubauten (über 300 Jahre Hertensteinhaus, gut 130 Jahre Knörrhaus, knapp 60 Jahre Warenhaus) nicht weiter beschleunigt – aber ob das Gebäude ebenfalls 300 Jahre stehen bleibt wie seinerzeit das Hertensteinhaus?

Die Renaissance-Fresken sind andeutungsweise zu sehen. Soweit bekannt, war es damals das einzige Bürgerhaus mit komplett bemalter Fassade, die Zurschaustellung von Wohlstand und Kunstsinn nach aussen hin war gewagt. Diese Kopieraktion ist der frühen denkmalpflegerischen Auseinandersetzung rund um den Abbruch zu verdanken. Trotzdem bleiben viele Fragen offen, wie jene nach der Gestaltung der Dachuntersicht (Spitzbogenfries oder Holzbüge?). «Obwohl die Holbein-Fresken unwiederbringlich verloren sind (...), dürfen wir annehmen, dass sie ein absoluter Höhepunkt im Luzerner Kunstschaffen des 16. Jahrhunderts gewesen sind.» (Michael Riedler) Der einflussreiche, weltgewandte Schultheiss und Sekelmeister war u. a. durch seine vier Ehen und in Kriegen zu Vermögen gekommen. Bauherr war der elsässische Bankier Friedrich Knörr sen., Vater des bekannten Begründers der hiesigen Dampfschifffahrt. Die Bank wurde nach über 70 Jahren Eigenständigkeit 1944 von der Schweizerischen Bankgesellschaft übernommen. Das Haus gehörte zusammen mit der Kapellgasse 2 (Knörrhaus) und der Holbeingasse 1 Oskar Korner, Gemeindeammann von Vitznau. Er liess sie alle drei für den Neubau des ABM-Gebäudes abreissen. Nicht nur das eigentliche Gebäude löste 1962 heftige Kontroversen aus, auch die Tatsache, dass der Architekt Friedrich E. Hodel selber Mitglied der Altstadtkommission war, sorgte für Unverständnis und Empörung. 
Das Gebäude war im Inventar der schützenswerten Ortsbilder (ISOS) als störend eingetragen. ABM - Au Bon Marché - galt als günstig, weswegen der Volksmund die Abkürzung zu «Alles billiger Mist» verballhornte. «Nach den neusten Erkenntnissen von Handelstechnik und Baukunst erstellt» (Zeitung Vaterland): Der Fortschritt und das Neuartige wie etwa die Selbstbedienung im Geschäft standen bei der Eröffnung im April 1962 im Vordergrund. Die Vorstellung des verlorenen Hertensteinhauses und die Zumutung des «Betonklotzes» an dieser Stelle dienten Mitte der 1980er-Jahre als Projektionsflächen für Architekten aus dem Umkreis von Stadtarchitekt Manuel Pauli und der Altstadtkommission. Angefertigt vermutlich auf der Vorlage von Lustenberger: Entwürfe mit Anklängen an die hertenstein'sche Dachkonstruktion. In Form und Farbe unverkennbar Entwürfe aus den 1980er-Jahren. Der Abbruch des C&A-Hauses im Herbst 2018 dauerte einen ganzen Monat. Das Projekt für den nun realisierten Neubau des Zürcher Architekturbüros Joos & Mathys ist 2017 aus einem Wettbewerb hervorgegangen; in der Jury waren auch die Stadt Luzern und die Kantonale Denkmalpflege vertreten.