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21. November 2022
Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 sind über 200 ukrainische Kinder und Jugendliche in der Stadt Luzern angekommen. Sie werden in 15 Aufnahmeklassen unterrichtet. Ein Besuch in einer Klasse im Schulhaus Ruopigen.

Von Andrea Müller

Dienstag, 8 Uhr, im Erdgeschoss des Sekundarschulhauses Ruopigen. Ukrainische Wörter sind zu hören. Die Lernenden der Aufnahmeklasse treffen ein, in Gruppen und einzeln. Punkt 8.15 Uhr beginnt der Unterricht von Natalia Roppel. Auf dem grossen Bildschirm ist ein Querschnitt eines Schulhauses eingeblendet. Mit ruhiger, fast schon leiser Stimme beginnt Natalia Roppel, den Wortschatz zum Thema «Schulanlagen» abzufragen: «Wo liegt die Bibliothek?», «In welchem Stockwerk ist die Toilette?», «Kannst du das Verb ‹liegen› noch einmal konjugieren?» Auch gegenseitig müssen sich die Jugendlichen Fragen stellen. Es herrscht eine konzentrierte Atmosphäre. Die Hälfte der 20 wöchentlichen Lektionen für die ukrainischen Jugendlichen ist im Fach Deutsch. Daneben gibt es Unterricht in Mathematik, Englisch, Gestalten, Sport und Musik.

Natalia Roppel und Schüler
Natalia Roppel: «Ich will den Kindern, die traumatisiert aus den Kriegsgebieten kommen, helfen, sich ins neue Leben zu integrieren.»

Natalia Roppel ist Russin. Sie hat an einer sibirischen Universität studiert und in Deutschland
einen Masterabschluss in germanistischer Linguistik erworben. Seit 2016 lebt sie in der Schweiz. Als sie erfuhr, dass die Schule Ruopigen eine Ukrainisch oder Russisch sprechende Lehrperson sucht, hat sie nicht lange gezögert. «Ich will mich nützlich machen und den Kindern, die traumatisiert aus den Kriegsgebieten kommen, helfen, sich ins neue Leben zu integrieren.» Aufgrund ihrer Herkunft spricht Natalia Roppel mit den Lernenden nebst Deutsch auch Russisch. Die Jugendlichen helfen sich gegenseitig, wenn die Russischkenntnisse nicht ausreichen. Der 15-jährige Igor, der mit seiner Familie aus einem Dorf in der Nähe von Charkiw flüchtete, spricht Russisch ebenso gut wie Ukrainisch. Auch in Deutsch macht er gute Fortschritte.

Schnell reagiert

Die meisten Jugendlichen in Natalia Roppels Klasse besuchen den Unterricht seit den Sommerferien – immer vormittags. Die Klasse ist eine von vier Aufnahmeklassen für ukrainische Kinder im Schulhaus Ruopigen. Nach Kriegsbeginn im Februar 2022 hat die Stadt Luzern schnell reagiert und stadtweit Aufnahmeklassen für geflüchtete Kinder eröffnet. Neu ist, dass die Kinder in einer Klasse alle aus demselben Herkunftsland stammen. «Die rein ukrainischen Aufnahmeklassen sind nicht optimal, da die Lernenden sich in der eigenen Sprachgruppe und Kultur bewegen», sagt Lukas Keiser, als Prorektor veranwortlich für die Organisation der ukrainischen Klassen.

Besser wären gemischte Aufnahmeklassen, in denen die Kinder und Jugendlichen verschiedene Sprachen sprechen und sich auf Deutsch verständigen müssen. «Die grosse Menge an Kindern hat uns aber keine andere Möglichkeit gelassen», sagt Andrea Scheuber, Geschäftsleitungsmitglied der Volksschule. «Mit den 200 ukrainischen Kindern könnten wir ein eigenes Schulhaus füllen.»

Fernunterricht auf Ukrainisch

Ruopigen-Schulleiter Sacha Furrer ist zufrieden, wie es läuft, auch wenn viele Herausforderungen zu meistern sind. «Es gibt immer wieder Kinder, die nicht mehr im Unterricht erscheinen», sagt er. «Wir erhalten oft keine Informationen über ihren Verbleib und erfahren erst später von anderen Lernenden: ‹Sie haben die Schweiz verlassen.›» Herausfordernd sei auch die nachvollziehbare Haltung der Eltern, auf die schnelle Rückkehr in die Ukraine zu hoffen. «Zwei Drittel der Lernenden in unseren Klassen besuchen deshalb auch den ukrainischen Onlineunterricht oder lösen ukrainische Aufgaben im Selbststudium», sagt Sacha Furrer. Für manche eine Doppelbelastung. Nicht so für Lisa, die vor sechs Monaten aus Kiew in die Schweiz kam. «Ich mache immer am Nachmittag Hausaufgaben für die ukrainische Schule», sagt die 15-Jährige auf Englisch. «Ich mache das gerne!»

Vieles ist nicht planbar

Eine weitere grosse Herausforderung sei die Integration der Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen, sagt Prorektor Lukas Keiser. «Wir arbeiten darauf hin, dass die Kinder und Jugendlichen integriert werden, und klären zurzeit, wann und wie dies am sinnvollsten geschieht. Schulleiter Sacha Furrer gibt zu bedenken, dass vieles nicht planbar sei: «Wir können die Integration zwar auf einen bestimmten Zeitpunkt organisieren. Dann kehren aber vielleicht kurz zuvor viele Familien in die Ukraine zurück. Oder es kommen noch viel mehr Flüchtlinge.» Er kann der Krise aber auch Positives abgewinnen: «Es ist toll, zu sehen, was in der Not möglich ist. Es braucht hauptsächlich kompetente und wohlwollende Lehrpersonen.» Viel Kreativität sei beim Organisieren der Klassen gefragt gewesen, auch hinsichtlich Stundenplan. «Frei zu denken und einen sinnvollen, abwechslungsreichen Unterricht zu gestalten, hat Spass gemacht.»

Schüler
Zehn Lektionen Deutsch pro Woche und zehn Lektionen in den Fächern Mathematik, Englisch, Gestalten, Sport und Musik.

Intensive Betreuung, Geduld und Liebe

Der geordnete Unterricht in der Sekundarklasse im Schulhaus Ruopigen erstaunt, zumal immer wieder von schwierigen Situationen zu hören ist. Die Nachfrage in einer Primaraufnahmeklasse im Schulhaus Mariahilf bestätigt: Es geht nicht überall so ruhig und geordnet zu und her. Die 1./2. Klasse mit 14 Kindern wird von Ruslana Dziama unterrichtet, die vor dem Krieg Dozentin an einer Pädagogischen Fachhochschule in der Ukraine war. Jedes Kind erfordere intensive Betreuung, Geduld und Liebe, sagt sie. Obwohl die Kinder motiviert sind, hat sie mit Verhaltensauffälligkeiten wie Wut-, Angst- und Weinanfällen umzugehen. In diesem Umfeld einen guten Unterricht aufrechtzuerhalten, sei schwierig. Kommt hinzu: «Manche Kinder haben wenig Erfahrung mit der regulären Schule, weil sie in der Ukraine den Unterricht aufgrund der Coronapandemie und des Kriegsausbruchs nur online besucht haben.» Trotz aller Schwierigkeiten stellt Ruslana Dziama sehr zu ihrer Freude positive Tendenzen und Veränderungen fest.

Alltägliche Dinge, die fehlen

Derweil nimmt der Unterricht in Natalia Roppels Klasse ihren Lauf. Der 14-jährige David erzählt, dass er vor den Sommerferien bei einer Schweizer Familie gewohnt hatte und gelegentlich Deutsch sprechen konnte. Jetzt ist er mit seiner Familie in einer eigenen Wohnung untergekommen und sagt höchstens auf der Strasse gelegentlich «Grüezi». Er sagt, es gefalle ihm hier. Seine Lehrerin aber weiss, dass viele Kinder ihre Väter und andere Familienmitglieder sehr vermissen. Auch 1./2.-Klass-Lehrerin Ruslana Dziama sagt: «Den meisten Lernenden geht es in der Schule gut, weil sie durch das Lernen abgelenkt werden.» Nebst Familienangehörigen fehlen den Kindern vor allem ihre Haustiere, ihr Spielzeug, ihre Betten, das gewohnte Essen – alltägliche Dinge, die für uns selbstverständlich sind.

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Stadtmagazin 4/2022