Von Pirmin Bossart
«Ah, bist du mal inkognito unterwegs?», scherzt die Barfrau in der Ufschötti-Buvette zur Rollstuhlfahrerin, als wir uns ein Getränk holen. Anja Perret (22) ist oft auf der Luzerner Freizeitwiese am See anzutreffen. Nur trägt sie dann die blaue Uniform der SIP-Patrouille und lässt sich nicht an einem Tisch nieder, um mit einem Journalisten zu reden. In ihrem Alltag mischen sich die drei Rollen, die sie auf ihren SIP-Rundgängen je nach Situation wahrnimmt: als Beobachterin, als Helferin, als Botschafterin.
Die richtige Sprache
Die SIP-Leute haben ein Gespür dafür, mit ganz verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen ins Gespräch zu kommen, was problematische Situationen oft entschärfen kann. «Unsere Methode ist der Dialog», sagt Anja Perret. «Wir sind nicht mit dem moralischen Zeigefinger unterwegs.» Sie finde es spannend, je nach Zielgruppe die richtige Sprache zu finden und auch zu spüren, in welchen Situationen für eine förderliche Lösung eher Zurückhaltung oder Nachdruck gefragt sei.
Die Ufschötti ist einer der «Hotspots» von Luzern, wo die Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen gelebt werden und manchmal auch aufeinanderprallen können. Vor allem an Wochenenden treffen sich dort und auf dem Areal der Kantonsschule Alpenquai zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene. Die Folgen sind Littering, Vandalismus, Lärm und manchmal auch Gewalt, was wiederum den Anwohnenden zu schaffen macht.
Mit dem neuen Projekt «Safe Place» bieten die SIP-Mitarbeitenden diesen Sommer den Jugendlichen eine Anlaufstelle, wo sie sich informieren und austauschen und bei Bedarf auch Unterstützung erfahren können (siehe Randspalte rechts). «Ich freue mich, beim ‹Safe Place› mitzumachen», sagt Anja Perret. «Das Setting wird es ermöglichen, uns vertiefter auf die Probleme und Anliegen der Jugendlichen einzulassen. Meine Kolleginnen und Kollegen haben mir erzählt, wie offen und auch vertrauensvoll die Jugendlichen letztes Jahr waren.»
Existenzielle Erfahrung
Anja Perret ist erst seit März 2023 bei SIP dabei. Es ist ein sechsmonatiges Vorpraktikum, das sie braucht, um sich an der Hochschule für Sozialpädagogik für ein Studium bewerben zu können. Eigentlich plante sie, Rettungssanitäterin zu werden. Aber dann kam alles anders. Kurz nach der Diplomprüfung als medizinische Praxisassistentin hatte sie einen unerwarteten, schweren Schicksalsschlag, der fast alle ihre Körperfunktionen lahmlegte. Es folgten schwere Komplikationen, die sie in ihren Fortschritten immer wieder zurückwarfen. Dabei hätte es gar nicht so weit kommen müssen. «Leider werden gerade junge Frauen in der Medizin zu oft nicht ernst genommen. Bei mir wurden die Symptome verharmlost und heruntergespielt, bis es für eine optimale Behandlung zu spät war.» Anja Perret verbrachte rund ein Jahr in der stationären Rehabilitation, später kam sie unter anderem aufgrund einer Umschulungsabklärung ins Schweizerische Paraplegikerzentrum (SPZ) in Nottwil. So lernte die gebürtige Aargauerin die Region Luzern tiefer kennen, von wo sie nun auch nicht mehr weg will.
Neue Perspektive
Eine berufliche Tätigkeit im Gesundheitsbereich kommt heute für Anja Perret nicht mehr in Frage: «Wie gewisse Fachpersonen mit mir umgegangen sind, empfand ich nicht als unterstützend und sogar als hinderlich für mein Gesundwerden.» Dazu kamen und kommen Mehrbelastungen, wie sozialversicherungstechnische Hürdenläufe, viele administrative und organisatorische Zeitaufwände sowie bauliche Barrieren, die Eigenressourcen rauben und (zusätzlich) behindern. Dennoch hadert die junge Frau nicht. Ruhig und aufmerksam schildert sie ihre Lebensumstände und macht spürbar, dass sie ihre Empathie für andere Menschen nicht verloren hat und innerlich gewachsen ist. «In den letzten vier Jahren habe ich so vieles durchgemacht, Rückschläge erlebt, Tiefpunkte durchschritten, aber auch viele tolle Menschen kennengelernt und neue Perspektiven erfahren dürfen. Ich habe gelernt, mit dem, was für mich noch machbar ist, zu leben und von dort aus weiterzugehen.»
Nach den langen Monaten in der Rehabilitation entschloss sie sich, beruflich im sozialen Bereich Fuss zu fassen. «Ich habe in dieser schwierigen Lebensphase die verschiedensten Menschen und ihre Sichtweisen kennengelernt und Einblicke erhalten, wie sich andere durchschlagen müssen.» Mit diesen Erfahrungen könne sie Menschen auf eine andere Art abholen und ihnen auch unterstützend zur Seite stehen, wo sie es brauchten. Sie sei sehr glücklich, dass sie bei SIP mitmachen könne. «SIP-Leiter Arjen Faber und das Team waren offen genug, mich einzustellen. Dafür bin ich dankbar. Und ich fühle mich sehr wohl in dieser Arbeit.»
Nähe schaffen
Als Rollstuhlfahrerin ist Anja Perret besonders exponiert. Sie wird wahrgenommen und erhält auch Respekt – gerade von Menschen am Rande der Gesellschaft. «Ich denke, dass ich oft schneller eine Nähe schaffen kann und ein Vertrauen da ist, weil das Gegenüber sieht, dass ich offensichtlich auch schon etwas erlebt habe.» Andererseits gibt sie mit ihrer Präsenz dem Alltag von behinderten Menschen ein Gesicht und sensibilisiert die Bevölkerung, vielleicht etwas lockerer miteinander umzugehen. «Die meisten Menschen mit Behinderung sind im Büro versteckt. Für mich ist der öffentliche Raum, wo ich mit Menschen zu tun habe, der richtige Ort.» Als Rollstuhlfahrerin bei SIP macht sie nicht zuletzt in der Öffentlichkeit bewusst, dass die Stadt Luzern die Inklusion nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert.
In ihrer Freizeit spielt Anja Perret RollstuhlRugby, macht Kraft- und Ausdauertraining. «Gerne verbringe ich den Abend mit meinen Liebsten und freue mich immer, wenn sie ein Abenteuer mit mir mitmachen – vom Schwimmen im See bis zu einem Gleitschirmflug.» Schöne Momente zu kreieren und gelassen durchs Leben zu gehen, das ist für Anja Perret zunehmend erstrebenswert geworden. Sie hat gelernt, mit den Einschränkungen umzugehen. Was auch heisst, nicht immer nur weiterzukämpfen, sondern auch wieder vertrauen zu lernen in die Menschen, ins Leben und in alles, was weiterhin möglich ist. Und das ist, mit Gelassenheit betrachtet, immer noch eine ganze Menge.
Neue Regeln bei der Kanti Alpenquai
Die Jungparteien der Stadt Luzern haben mit dem Sicherheitsmanager Vorschläge ausgearbeitet, wie die Probleme auf der Ufschötti und dem Areal der Kantonsschule Alpenquai verringert werden könnten. Neu darf das Kanti-Areal an den Wochenenden von der Öffentlichkeit genutzt werden. Der Sicherheitsdienst weist nur noch Besucherinnen und Besucher weg, die negativ auffallen.
«Safe Place»
Während der Sommerferien wird jeweils am Freitag- und Samstagabend auf der Ufschötti ein «Safe Place» betrieben. SIP-Mitarbeitende betreuen die Anlaufstelle. Falls nötig, alarmieren sie die Polizei.
Ufschötti-Kodex
Die Jungparteien erarbeiten Verhaltensregeln für die Ufschötti (Lautstärke von Musikboxen, korrekte Abfallentsorgung, Verzicht auf Gewalt). Dieser Kodex wird auf Plakatständern vor Ort und auf den Social-Media-Kanälen kommuniziert. Bis Ende 2023 werden die Erfahrungen zusammen mit den Jungparteien und der Anwohnerschaft ausgewertet. Dann wird entschieden, ob und welche Massnahmen auch 2024 umgesetzt werden.